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Artikel der NZZ vom 30. Januar 2009 |
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Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine
Empörung über Israels Vorgehen und über die Zurückhaltung der Hamas-Kämpfer
Viele in Gaza beschreiben die jüngste Kampagne Israels als Krieg gegen
das ganze Volk und nicht gegen die Hamas. Erschütterte und dezimierte
Familien nehmen die Trümmer ihrer Häuser wieder in Besitz. Die Hamas wird
kritisiert wegen zu schwachen Widerstands, aber nicht ernstlich angefochten.
Von Viktor Kocher, Gaza, 29. Januar
Unter einer dicken Schicht von Löschsand schwelt es immer noch in den Trümmerhaufen
an einer Ecke des total verkohlten Lagerhauses des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge
(UNRWA) in Gaza. «Wenn das mehr als zehn Tage nach dem Bombardement noch
immer brennt, kann das nur Phosphor sein», versichert der Sprecher des
Hilfswerks.
Verbittert weist er auf zehn zerstörte Busse, eine Reihe anderer
havarierter Dienstfahrzeuge und die Vorräte für Hunderttausende von
Hilfsrationen hin, die alle dem Beschuss am letzten Tag des israelischen
Kriegs gegen die Hamas zum Opfer gefallen sind. «Gleich nach dem Einschlag
des ersten Geschosses nahm der UNRWA-Chef direkt Kontakt zum israelischen
Verteidigungsministerium auf», sagt der Sprecher, «doch allen Versicherungen
der Generäle zum Trotz schlugen eine Stunde später nochmals drei
Phosphorgranaten ins Lagerhaus ein und setzten alles in Brand.»
Verwüstete Viertel und Äcker
Die unmittelbar daneben gelagerten grossen Benzinvorräte der Uno-Agentur
blieben wie durch ein Wunder unversehrt. Doch in der Vernichtung der Hilfsgütervorräte
in einem seit Jahrzehnten bekannten und bestens markierten Lagerhaus sieht der
Uno-Sprecher keinen Unfall, sondern zynische Berechnung der Israeli. «Sie
wollten uns endgültig zermürben und uns auch den letzten Glauben an ein
humanes Weltgewissen rauben.»
Der Gazastreifen bietet gut eine Woche nach der Einstellung des Feuers ein
widersprüchliches Bild: Die Stadt Gaza erwacht rund um die verstreuten Trümmerhaufen
von den öffentlichen Gebäuden zögernd zu einem Alltagsleben, seit die
Schulen am 24. Januar den Betrieb wieder aufgenommen haben. In Rafah am Südende
herrscht sogar lebhafter Marktbetrieb, denn die Schmuggel-Pipeline durch die
Tunnels nach Ägypten ist weiterhin aktiv. Auf Erkundungsfahrten durch die
aussen liegenden Ortschaften, vor allem im Nordteil des Streifens und an der
Peripherie der Stadt Gaza, stösst man immer wieder auf die Spuren einer
riesigen, gefrässigen Zerstörungsmaschinerie, als welche die israelische
Armee auf ihrem Weg ganze Häuserzeilen in Trümmer gelegt, die Wohnblöcke
links und rechts mit Panzergranaten und Maschinengewehrfeuer durchsiebt,
Fabriken und Lagerhäuser vernichtet und Dutzende von Hektaren Ackerland und
Baumgärten verwüstet hat.
Eine Zahl von vielen zehntausend Obdachlosen errechnet sich aus dem Total
von 2400 gänzlich und über 16 000 teilweise zerstörten Wohnhäusern. Die
Zahl der Toten beträgt nach dem unabhängigen Palästinensischen
Menschenrechtszentrum (PHRC) insgesamt 1285; von ihnen sind 82,6 Prozent
zivile Opfer, insbesondere 280 Kinder, 111 Frauen und 167 Polizisten im
zivilen Dienst. Nach der gleichen Quelle wurden überdies 4336 Personen
verletzt, von ihnen 1133 Kinder und 735 Frauen. Die Erhebungen des PHRC
ergaben überdies, dass 28 öffentliche Gebäude wie Ministerien und das
Parlament, 60 Polizeiposten, 30 Moscheen und 10 Sozialzentren, 121 Werkstätten,
21 Gaststätten und Geschäfte sowie 5 Zementfabriken zerstört wurden.
Die Zivilbevölkerung als Zielscheibe
In den Katastrophenzonen nehmen die Menschen trotz der zweifelhaften
Waffenruhe die Trümmerhaufen, die von ihrem einstigen Heim geblieben sind,
wieder in Besitz, sie wühlen nach den letzten Leichen und noch brauchbarem
Hausrat, und viele haben sich unter einem stehengebliebenen Stück Dach oder
auch nur einer Zeltblache notdürftig aufs Bleiben eingerichtet. «Was nützen
mit jetzt die Notrationen von Zucker und Mehl», klagt ein Student und
Familienvater in Izbet Abedrabboh, «ich brauche dringlich ein Dach über dem
Kopf, damit ich mit den Nahrungsmitteln überhaupt irgendwo etwas anfangen
kann.» Mannschaften der Lokalverwaltung legen mit Schläuchen behelfsmässige
Wasserleitungen und reparieren notdürftig zerbrochene Kanalisationen und
Stromleitungen.
Die Leute von Gaza lesen aus dem Muster der Zerstörungen eine
erschreckende Botschaft heraus: «Die Israeli hatten es weniger auf die Hamas
als auf die ganze Bevölkerung von Gaza abgesehen», urteilt der Leiter des
Menschenrechtszentrums von Gaza, Jaber Weshah. «Sie wollten uns alle vom
Widerstand abschrecken, uns klarmachen, dass es im Krieg gegen die Palästinenserkämpfer
nirgends einen sicheren Ort mehr geben kann und dass es uns überaus blutig zu
stehen kommt.» Eine Journalistin der unabhängigen Agentur Ramattan meint: «Noch
nie haben sie den Kampf gegen die Palästinenser derart brutal geführt. Sie
achteten weder Frauen noch Kinder, weder Schulen noch Spitäler, weder die
Sanitäter des Roten Halbmonds noch die Kameraleute und Journalisten.» Wie
zur Bestätigung findet sich eine Reihe von Moscheen, bei denen lediglich die
Spitze des Minaretts mutwillig mit einer Panzergranate abgeschossen ist.
Mit einzelnen Episoden aus dem 22-tägigen Krieg illustrieren die Leute
dieses Urteil. So machten die Truppen ganze Wohnviertel dem Erdboden gleich,
einfach weil sie von einem Hügelzug aus die nahe Grenze zum Streifen
dominierten, etwa in Izbet Abedrabboh bei Beit Lahia. Etwas weiter südlich,
in Shijaiya, beschossen sie das Wafa-Spital, nur weil es eine offene Front
gegen Osten auf die Grenze zu aufweist. Eine Panzergranate schlug wie von
ungefähr mitten im Wort «Hospital» ein, welches das Krankenhaus als solches
gross kennzeichnet. Die Präsenz bewaffneter Kämpfer, die die Armee jeweils
zur Rechtfertigung anführte, bestreitet die Spitalverwaltung kategorisch.
Exekutionen von Zivilisten?
Der Direktor des Spitals des Roten Halbmondes in Gaza erzählt von einem
ganzen Konvoi mit Schwerverletzten in ihren Krankenbetten und Neugeborenen in
ihren Brutkästen, die mitten in der Nacht unter Feuer auf offener Strasse
hatten evakuiert werden müssen, nachdem die Israeli die beiden obersten
Stockwerke des Spitals in Brand geschossen hatten. Mit grossen Fliegerbomben
zerstörte die Luftwaffe ausgelesene Wohnhäuser im Weichbild der Stadt, etwa
dasjenige des Hamas-Innenministers Said Siyam. Auch das Haus eines notorischen
Fatah-Aktivisten und Feindes der Hamas aus dem Helles-Klan wurde vernichtet, während
dasjenige des Hamas-Scharfmachers Mahmud Zahhar oder das des
Kassam-Kommandanten Ahmed Jaabari intakt blieben.
Der Chef des Ambulanzdienstes des Roten Halbmonds beschuldigt die
israelischen Truppen, in vielen Fällen den Rettungsmannschaften den Zugang zu
Verwundeten verweigert zu haben, oftmals auch nach einer ausdrücklichen
Zusage des Verbindungsbüros der Armee über die Vermittlung des
Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Ambulanzen hätten nicht nur
Bombensplitter abgekriegt, sondern seien mehrmals direkt mit israelischem
Gewehrfeuer belegt worden. Der Arzt betont, es habe sich kaum um Missverständnisse
gehandelt, weil die israelischen Feldkommandanten meist über Mobiltelefon
direkt mit den Ambulanzfahrern Kontakt hatten. Wegen der langen Verzögerungen
hätten die Sanitäter mitunter Leichen geborgen, welche von den Hunden
angefressen waren. Bürgerrechtsaktivisten haben Zeugenaussagen von Überlebenden
aufgenommen, wonach die Soldaten Dutzende von wehrlosen Zivilpersonen
exekutiert hätten. Der Leiter der chirurgischen Abteilung des Shifa-Spitals
in Gaza weist auf einen sechsjährigen Knaben hin, der nach einem Kopfschuss,
also einer vermutlich absichtlichen Verletzung aus einem israelischen Gewehr,
um sein Leben ringt.
Widerstandskämpfer im Versteck
«Wir haben gesiegt, wahrlich, wir haben gesiegt», so geht der bittere
Scherz über die triumphale Propaganda der Hamas, «und wenn wir noch zwei,
drei Male weiter so siegen, dann ist ganz Gaza verwüstet.» Mancher
Familienvater rauft sich die Haare in der Erinnerung an die langen schlaflosen
Nächte unter den schweren Bombardementen, als seine Kinder bei ihm, dem
ebenfalls Hilflosen, Schutz suchten. Als Schlimmstes nennt man die heimtückischen
Phosphorgranaten, die mitten in zivilen Wohngebieten unlöschbare Brände
entfachten und schreckliche Wunden schlugen. Wer nicht selbst ein
Hamas-Aktivist ist, legt den Finger auf die zweifelhafte Wirkung des meist
versteckt gebliebenen Widerstands. «Der Sieg gehört dem Volk, nicht den
Widerstandskämpfern. Wir haben durchgehalten, wir standen tagelang Schlange für
ein paar Fladen Brot oder etwas Trinkwasser.» Trotzdem glaubt keiner an die
Entmachtung der Hamas – allein schon weil es keine Alternative gibt.
Und in einem verkörpert die Hamas recht deutlich den Willen der Leute.
Jetzt wollen sie erst recht der israelischen Besetzung die Stirn bieten, was
immer auch kommen mag, mit oder ohne Hamas. Von Präsident Abbas und einer gemässigten
Politik der Verhandlungen will in Gaza kaum mehr einer etwas hören. «Die
Israeli haben uns rundum eingeschlossen und ihre Armee auf uns losgelassen,
ohne irgendeinen Ausweg offen zu lassen», meint der Bürgerrechtsaktivist
Jaber Weshah, «aber das war der Wendepunkt. Wir werden uns zur Wehr setzen
und schliesslich die israelischen Kriegsverbrecher genauso jagen, wie man Jagd
auf die Nazis gemacht hat.»
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