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  Artikel der NZZ vom 30. November 2002  

Vernunft und Destruktivität im Nahen Osten

Mitten im Sturm innerer und äusserer Bedrohungen ist in Israel der Wahlkampf für die auf Ende Januar anberaumte Neubestellung des Parlaments entbrannt. Die vorgezogenen Wahlen sind eine Folge des Auszugs der traditionsreichen Arbeitspartei aus der von Sharon fast zwei Jahre lang geführten grossen Koalition. Der Wahlkampf wird thematisch ganz vom Konflikt mit den Palästinensern und von der Zukunft der besetzten Gebiete dominiert. Die Spitzenkandidaten der beiden grossen Parteienblöcke Likud und Arbeitspartei, Ariel Sharon und Amram Mitzna, stehen für zwei grundverschiedene Lösungsvorstellungen. Für welche Richtung sich die Mehrheit der Wähler entscheidet, wird wesentlich vom Verhalten auf der palästinensischen Seite beeinflusst sein.

Sharon verspricht, und zumindest in diesem Punkt hat er keine Glaubwürdigkeitsprobleme, die Fortsetzung des Kampfes gegen die palästinensische Gewalt mit den bisherigen Mitteln - das heisst mit geballter militärischer Macht, inklusive kollektiver Repressionsmassnahmen gegenüber der Zivilbevölkerung. Mit Rücksicht auf seine guten Beziehungen zur Administration Bush in Amerika akzeptiert er zwar theoretisch die Idee eines künftigen palästinensischen Staates. Doch über dessen Gestalt und die Zukunft der nach wie vor expandierenden Siedlungen schweigt er sich eisern aus. Namhafte israelische Kritiker dieser Politik sind überzeugt, dass Sharon in die Schaffung eines territorial zusammenhängenden Staatsgebildes für die drei Millionen Palästinenser in Cisjordanien und im Gazastreifen nie einwilligen werde.

Der neue Chef der Arbeitspartei, Amram Mitzna - seit zehn Jahren Bürgermeister von Haifa und wie Sharon ein früherer General -, vertritt demgegenüber folgendes Kernprogramm: vollständiger Rückzug Israels aus dem Gazastreifen innerhalb eines Jahres und sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit der palästinensischen Führung. Kommt dabei in nützlicher Frist keine Einigung zustande, würde sich Israel auch aus dem Westjordanland hinter eine einseitig bestimmte Grenze zurückziehen.

Die meisten Prognosen rechnen heute mit einem deutlichen Wahlsieg Sharons, dessen taktisches Gespür für die Stimmungen in der aufgewühlten politischen Arena Israels sein innerparteilicher Rivale Netanyahu sträflich unterschätzt hatte. Doch die Meinungsumfragen sagen auch, dass eine deutliche Mehrheit der Bürger einen Rückzug aus den besetzten Gebieten und die Räumung zumindest derjenigen Siedlungen befürwortet, die nicht entlang der «grünen Grenze» (zwischen Kernisrael und den 1967 eroberten Territorien) liegen. Programmatisch gesehen scheinen diese Zielvorstellungen also eher mit Mitznas Konzept übereinzustimmen als mit den bewusst schleierhaften Langzeitplänen Sharons. Hat der neue Führer der Arbeitspartei eine Chance, diese schwankende Stimmungslage zu nutzen und in zwei Monaten mehr Wähler auf seine Seite zu ziehen, als die Auguren heute voraussagen?

Kaum, solange die palästinensischen Extremisten entschlossen bleiben, ihre Strategie des unbegrenzten Terrors nicht nur gegen die Okkupationspräsenz in den besetzten Gebieten, sondern auch gegen Zivilisten innerhalb und ausserhalb Israels fortzusetzen. Dieser Terror spielt wahltaktisch zweifellos dem Hardliner Sharon in die Hände. Vernünftige Stimmen unter den Palästinensern - wie diejenige des Präsidenten der Ostjerusalemer Universität und PLO-Beauftragten Sari Nusseiba oder von Arafats Stellvertreter Abu Mazin - haben denn auch dieser Tage mit Nachdruck auf diesen Zusammenhang aufmerksam gemacht. Sie fordern ein Ende der destruktiven Gewalt, die die palästinensische Bevölkerung immer tiefer ins Elend gestürzt hat und die kompromisswilligen Kräfte in Israel in die Isolierung treibt.

Gewaltloser Widerstand gegen die israelische Herrschaft im Gazastreifen und in Westjordanien, wie ihn einst Mahatma Gandhi in Indien gegen die britische Kolonialmacht erfolgreich praktiziert hatte, wäre im Kampf für die palästinensischen Interessen die politisch und moralisch ungleich wirksamere Waffe als der abstossende Terror der blutrünstigen Fanatiker. Ihr konsequenter Einsatz würde auch Sharon schnell zum Offenbarungseid zwingen, ob er wirklich zu fairen Kompromissen mit den palästinensischen Nachbarn bereit ist. Von solchen Kompromissen aber wollen die nationalistischen und religiösen Scharfmacher im palästinensischen Lager nichts wissen. Sie sind vom Wahn beherrscht, eines Tages ganz Israel zerstören zu können. Deshalb sind diese extremistischen Gruppierungen an einem Wahlsieg Mitznas nicht interessiert.

Auf der andern Seite scheint auch die von Anfang an geringe Neigung der Regierung Sharon und der militärischen Führung, die drei Millionen Palästinenser in den besetzten Gebieten differenzierter zu beurteilen und nicht pauschal als Hilfskräfte des Terrors zu behandeln, sich nicht zu verändern. Dass man mit der zumindest teilweise mutwilligen Zerstörung von Wohnhäusern, landwirtschaftlichen Feldern, Olivenhainen und zivilen Infrastrukturen den Extremisten ständig neuen Nachwuchs in die Arme treibt, zeigt die offenbar ungebrochene Fähigkeit terroristischer Gruppen zu verheerenden Anschlägen.

Kann es so weitergehen? Die deprimierenden Erfahrungen nach dem Scheitern der Friedensverhandlungen in Camp David und dem Ausbruch der zweiten Intifada vor mehr als zwei Jahren sprechen eher dafür, dass sich ein Ausweg aus der Sackgasse, in die sich Israeli und Palästinenser gegenseitig hineinmanövriert haben, kaum schon nach der nächsten Knessetwahl auftun wird. Dass der bärtige Labourführer Mitzna es Ende Januar zu einem Achtungserfolg gegen Sharon bringen wird, ist immerhin nicht ausgeschlossen. Sollte er über den nötigen langen Atem verfügen und als Oppositionschef auf der politischen Bühne bleiben, könnten seine Lösungsvorstellungen für die besetzten Gebiete längerfristig umso mehr Anklang finden, je tiefer der israelischen Öffentlichkeit ins Bewusstsein dringt, dass Sharon seine Versprechungen von Frieden und Sicherheit nicht einlösen kann. - Nicht auszuschliessen ist, dass Präsident Bush seinen Partner Sharon schon in nächster Zeit zu einer wenigstens minimalen Kurskorrektur zwingen wird. Sharons Regierung hat in diesen Tagen wegen der prekären israelischen Wirtschaftslage in Washington neben der laufenden Finanzhilfe neue Kreditgarantien über zehn Milliarden Dollar sowie zusätzliche direkte Kreditzusagen im Umfang von vier Milliarden Dollar beantragt. Einige Leute in Washington dürften sich daran erinnern, dass Bushs Vater vor gut zehn Jahren eine ähnliche Anfrage aus Israel abgelehnt hatte, weil der damalige Regierungschef Shamir nicht bereit war, einem Siedlungsstopp in den besetzten Gebieten zuzustimmen. Ist der jüngere Bush gewillt, auch Sharon mit dieser - eigentlich bescheidenen, aber prinzipiell bedeutungsvollen - Gegenleistung zu konfrontieren und diese wirklich durchzusetzen? Falls ja, wäre dies immerhin ein kleiner Fortschritt auf der Seite der Vernunft.

R. M.

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 30. November 2002Nr.279, Seite 1
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