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  NZZ vom 8. März 2002  

Es geht um die Koexistenz zwischen Israeli und Palästinensern

Eine palästinensische Stimme zur Intifada und zur Suche nach Frieden

Von Hassan Khader

Im folgenden Beitrag geht der Autor, Chefredaktor der in Ramallah erscheinenden literarischen Zeitschrift «Al-Karmel», den Gründen nach, die den Friedensprozess im Nahen Osten zum Scheitern gebracht haben. Er kritisiert dabei auch den Versuch der palästinensischen Führung, ein Regime nach altem nahöstlichem Muster zu errichten.

An einem Abend Anfang 1995 wurde ich von israelischen Freunden in Tel Aviv in ein Restaurant zum Essen eingeladen. Unsere Gastgeberin war Lily Cohen, die Leiterin des israelischen Instituts für die Übersetzung hebräischsprachiger Literatur; sie wollte, dass unsere Anwesenheit auch von anderen wahrgenommen werde. Die Stimmung war freundschaftlich, und eine Frau begann für uns ein arabisches Lied zu singen, was die anderen Gäste mit einem Lächeln oder Kopfnicken begrüssten. Als Palästinenser in Tel Aviv zu sein, schien damals die natürlichste Sache der Welt. Es waren die Tage, in denen Optimismus herrschte und der Frieden möglich schien. Etwa zur selben Zeit berichteten die Zeitungen, dass palästinensische Bauern die Insassen eines israelischen Autos gerettet hatten, das an einem stürmischen Regentag auf einer rutschigen Strasse des Westjordanlandes von einer Flutwelle mitgerissen worden war. Ich glaube nicht, dass das heutzutage als natürlichste Sache der Welt erschiene.

Ein Friede in Raten 

Was ist geschehen? Was hat gefehlt, dass für Israeli und Palästinenser alles schiefgelaufen ist? Solche Fragen sind nicht einfach zu beantworten, aber wenn man nicht ständig darüber nachdenkt, gibt es auch keine Möglichkeit, aus der gegenwärtigen Lage herauszukommen. Ich erhebe nicht den Anspruch, auf diese Fragen die richtigen Antworten zu haben, aber ich möchte über den unter einem schlechten Stern stehenden Friedensprozess nachdenken, der uns in diese Lage geführt hat.

Die Schöpfer des Oslo-Prozesses haben versucht, einen Frieden in Raten zu schliessen, und dabei das Konfliktpotenzial der israelischen Siedlungen übersehen. Die israelischen Teilrückzüge und die Verdoppelung der Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten mit der damit einhergehenden Konfiskation von Land, dem Bau von Umfahrungsstrassen und der Stationierung von Soldaten zum Schutz der Siedler haben zu einer Situation geführt, die Ama Aylon, der frühere israelische Chef für innere Sicherheit, mit der Apartheid verglichen hat. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation und die Beeinträchtigung des täglichen Lebens der palästinensischen Bevölkerung muss nicht mehr gross erklärt werden. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die Palästinenser für jede vorstellbare Unternehmung, die Menschen in anderen Ländern als selbstverständlich anschauen, eine Bewilligung brauchen. Die israelischen Beamten, die solche Bewilligungen ausstellen, benehmen sich wie Kolonialherren, die jede Bewegung im Leben der Bevölkerung kontrollieren.

Die Gründe der Intifada 

Strassensperren sind ein weiterer Teil unseres täglichen Lebens; sie kontrollieren den Zugang zu palästinensischen Städten und Dörfern. Reisen im Westjordanland und im Gazastreifen sind schon zu normalen Zeiten kein Vergnügen, in schlechten Zeiten wie heute sind sie ein Albtraum. Gebiete können von der israelischen Armee ohne Vorwarnung für Wochen, ja Monate abgeriegelt werden. Das geschah schon zu den Zeiten von Oslo und wurde zu einem Teil des Alltags schon vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Intifada. In einer solchen Situation ist es unmöglich, irgendetwas zum Voraus zu planen. Kleine Vorhaben wie ein Besuch bei der eigenen Mutter oder die Teilnahme an einem Hochzeitsfest hängen davon ab, ob man die Bewilligung erhält, durch die Strassensperre in den Bestimmungsort hinein- und rechtzeitig wieder herauskommt. Wenn die Mutter weit weg wohnt oder die Hochzeitsgesellschaft in einem entfernten Ort stattfindet, ist man vor allem auf sein Glück angewiesen.

Unter diesen Umständen ist die palästinensische Intifada verständlich und in meinen Augen auch berechtigt, als ein Akt des Widerstands gegen die Besetzung. Dieser Akt spiegelt die Verzweiflung eines Volkes, das sich betrogen vorkommt von einem Prozess, der keinen Frieden brachte, sondern das Leben nur schwieriger machte. Der masslose Einsatz von Gewalt durch die Israeli hat das in den 34 Jahren der Besetzung aufgebaute Gefühl, Opfer einer Ungerechtigkeit zu sein, zur Explosion gebracht. Wir können die gegenwärtige Intifada nur verstehen, wenn wir die traumatischen Erfahrungen eines Volkes, das so lange gelitten hat, in Rechnung stellen. Das bedeutet aber keineswegs eine Rechtfertigung für Angriffe, die gegen israelische Zivilisten geführt werden.

Dialog statt Selbstmordattentate 

Dies führt uns zu dem, was israelische Medien als Terrorismus bezeichnen, ein Begriff, der in einigen Weltgegenden ohne weitere Überprüfung übernommen wird. Dieser Begriff verwischt mindestens die Realität der Besetzung, wenn er nicht geradezu das Recht auf Widerstand, das auch vom Völkerrecht anerkannt wird, verneint. Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten sind unannehmbar und müssen von einem moralischen Standpunkt aus verurteilt werden. Das ist jedoch nicht alles, denn solche Anschläge machen die israelische Bevölkerung zu unserem Feind und treiben sie in die Arme der extremistischen Elemente in der israelischen Politik und der Armee.

Ich glaube, dass eine Verhandlungslösung der einzig gangbare Weg zur Beendigung des Konflikts ist. Um dies zu erreichen, müssen wir das Verständnis und die Unterstützung aller friedliebenden Menschen in der israelischen Gesellschaft gewinnen und die gewöhnlichen Bürger von der Möglichkeit der Koexistenz überzeugen. Die Selbstmordattentate haben unglücklicherweise den israelisch-palästinensischen Beziehungen einen grossen Schaden zugefügt, und es braucht eine grosse Anstrengung, diesen Schaden wieder gutzumachen.

Jetzt ist ein direkter und offener Dialog zwischen Israeli und Palästinensern nötig, um zu zeigen, dass Frieden trotz allem möglich ist. Vor ein paar Wochen haben wir 300 Israeli bei uns empfangen, denen es gelungen war, den Belagerungsring zu durchbrechen und nach Ramallah zu kommen, um zu zeigen, dass es für den Frieden einen Partner gibt. Es braucht jedoch viel mehr Anstrengungen, um die Kultur des billigen Populismus zu überwinden, die in Krisen- und Kriegszeiten aufblüht.

Die alten Muster 

Wenn wir an die Jahre nach Oslo als an einen Fortbildungskurs zur Schaffung einer modernen und demokratischen Nation denken, entdecken wir viele Vorbehalte gegenüber unserem eigenen Populismus und unserem neuerlichen Versuch, das Muster der heute im Mittleren Osten bestehenden Regime auch bei uns zu verwirklichen. Eines der Hindernisse für eine Modernisierung der arabischen Welt war und ist, dass die traditionelle politische Kultur gestärkt und in einen neonationalistischen Diskurs integriert wird. Verschiedene Teile des palästinensischen Regimes haben diese Idee sehr wirkungsvoll angewandt, um die Entstehung einer modernen pluralistischen Kultur zu verhindern, die auf gesetzlich garantierten Rechten und nicht auf familiären oder regionalen Banden fusst.

Ein weiteres Problem, dem die arabischen Regime gegenüberstehen, ist ihre zweideutige Haltung gegenüber der Zivilgesellschaft. Das Regime handelt als Vertreter der Zivilgesellschaft und verunmöglicht deren Unabhängigkeit, indem es ihr Veränderungspotenzial kontrolliert oder zerstört. Verschiedene Vertreter des im Entstehen begriffenen palästinensischen Regimes haben in diese Richtung zu arbeiten begonnen. Der Fundamentalismus ist ein allgemeines Phänomen in der arabischen Welt. In ihrem Bemühen, einen billigen, volkstümlichen Diskurs anzuwenden, geraten die arabischen Regime in eine Konkurrenzsituation mit den Fundamentalisten, deren Sprache authentischer und den kulturellen Wurzeln der Bevölkerung näher ist. In dieser Situation versuchen die Regime, mit Geschenken und Konzessionen die Unterstützung der Fundamentalisten zu erkaufen; diese haben jedoch ein anderes Programm, so dass diese Regime zum ersten Opfer der gesuchten Verbündeten werden. Man kann nicht sagen, dass das palästinensische Regime diese Politik verfolgt hat, aber gewisse Versuche in diese Richtung wurden unternommen.

Unabhängigkeit durch Selbsterkenntnis 

Wir sind eine Nation, die im Entstehen begriffen ist. In der Intifada haben die oben erwähnten Erfahrungen eine grosse Wirkung auf das individuelle und kollektive Verhalten gezeigt, das auch in politische Aktion umgesetzt wurde. Der Umstand, dass wir eine noch im Aufbau begriffene Nation sind, hat Vor- wie Nachteile. Ein Vorteil ist es, dass wir versuchen können, Fehler zu vermeiden, die schon von anderen gemacht wurden. Doch unser Nachteil ist es, dass wir von vorne beginnen müssen, ohne eine wirkliche und tief verankerte Erfahrung, wie moderne demokratische Institutionen geschaffen und am Leben erhalten werden. Unser Kampf für Unabhängigkeit ist auch eine Zeit der Suche nach Selbsterkenntnis. Die Überzeugungen und Methoden, die wir heute zur Anwendung bringen, haben einen nachhaltigen Einfluss auf das Modell, das wir morgen hervorbringen werden. Wir müssen dauernd unsere Taktik gegenüber der Besetzung überprüfen und dabei niemals vergessen, dass es letztlich um die Koexistenz zwischen Israeli und Palästinensern geht; wir müssen unsere politischen und gesellschaftlichen Strukturen erneuern und dabei in unserem Denken die universellen Werte betonen: Dies sind die wichtigsten Voraussetzungen, die einen Prozess der Hoffnung möglich machen. 

Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 6. März 2002, Nr.54, Seite 11
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