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Es geht um die Koexistenz zwischen Israeli und Palästinensern
Eine palästinensische Stimme zur Intifada und zur Suche nach Frieden
Von Hassan Khader
Im folgenden Beitrag geht der Autor,
Chefredaktor der in Ramallah erscheinenden
literarischen Zeitschrift «Al-Karmel», den
Gründen nach, die den Friedensprozess im Nahen
Osten zum Scheitern gebracht haben. Er kritisiert
dabei auch den Versuch der palästinensischen
Führung, ein Regime nach altem nahöstlichem
Muster zu errichten.
An einem Abend Anfang 1995 wurde ich von israelischen
Freunden in Tel Aviv in ein Restaurant zum Essen
eingeladen. Unsere Gastgeberin war Lily Cohen, die
Leiterin des israelischen Instituts für die Übersetzung
hebräischsprachiger Literatur; sie wollte, dass unsere
Anwesenheit auch von anderen wahrgenommen werde.
Die Stimmung war freundschaftlich, und eine Frau
begann für uns ein arabisches Lied zu singen, was die
anderen Gäste mit einem Lächeln oder Kopfnicken
begrüssten. Als Palästinenser in Tel Aviv zu sein, schien
damals die natürlichste Sache der Welt. Es waren die
Tage, in denen Optimismus herrschte und der Frieden
möglich schien. Etwa zur selben Zeit berichteten die
Zeitungen, dass palästinensische Bauern die Insassen
eines israelischen Autos gerettet hatten, das an einem
stürmischen Regentag auf einer rutschigen Strasse des
Westjordanlandes von einer Flutwelle mitgerissen worden
war. Ich glaube nicht, dass das heutzutage als
natürlichste Sache der Welt erschiene.
Ein Friede in Raten
Was ist geschehen? Was hat gefehlt, dass für Israeli und
Palästinenser alles schiefgelaufen ist? Solche Fragen sind
nicht einfach zu beantworten, aber wenn man nicht
ständig darüber nachdenkt, gibt es auch keine
Möglichkeit, aus der gegenwärtigen Lage
herauszukommen. Ich erhebe nicht den Anspruch, auf
diese Fragen die richtigen Antworten zu haben, aber ich
möchte über den unter einem schlechten Stern
stehenden Friedensprozess nachdenken, der uns in diese
Lage geführt hat.
Die Schöpfer des Oslo-Prozesses haben versucht, einen
Frieden in Raten zu schliessen, und dabei das
Konfliktpotenzial der israelischen Siedlungen übersehen.
Die israelischen Teilrückzüge und die Verdoppelung der
Zahl der Siedler in den besetzten Gebieten mit der damit
einhergehenden Konfiskation von Land, dem Bau von
Umfahrungsstrassen und der Stationierung von Soldaten
zum Schutz der Siedler haben zu einer Situation geführt,
die Ama Aylon, der frühere israelische Chef für innere
Sicherheit, mit der Apartheid verglichen hat. Die
Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation und die
Beeinträchtigung des täglichen Lebens der
palästinensischen Bevölkerung muss nicht mehr gross
erklärt werden. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass die
Palästinenser für jede vorstellbare Unternehmung, die
Menschen in anderen Ländern als selbstverständlich
anschauen, eine Bewilligung brauchen. Die israelischen
Beamten, die solche Bewilligungen ausstellen, benehmen
sich wie Kolonialherren, die jede Bewegung im Leben der
Bevölkerung kontrollieren.
Die Gründe der Intifada
Strassensperren sind ein weiterer Teil unseres täglichen
Lebens; sie kontrollieren den Zugang zu
palästinensischen Städten und Dörfern. Reisen im
Westjordanland und im Gazastreifen sind schon zu
normalen Zeiten kein Vergnügen, in schlechten Zeiten
wie heute sind sie ein Albtraum. Gebiete können von der
israelischen Armee ohne Vorwarnung für Wochen, ja
Monate abgeriegelt werden. Das geschah schon zu den
Zeiten von Oslo und wurde zu einem Teil des Alltags
schon vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Intifada. In
einer solchen Situation ist es unmöglich, irgendetwas
zum Voraus zu planen. Kleine Vorhaben wie ein Besuch
bei der eigenen Mutter oder die Teilnahme an einem
Hochzeitsfest hängen davon ab, ob man die Bewilligung
erhält, durch die Strassensperre in den Bestimmungsort
hinein- und rechtzeitig wieder herauskommt. Wenn die
Mutter weit weg wohnt oder die Hochzeitsgesellschaft in
einem entfernten Ort stattfindet, ist man vor allem auf
sein Glück angewiesen.
Unter diesen Umständen ist die palästinensische Intifada
verständlich und in meinen Augen auch berechtigt, als
ein Akt des Widerstands gegen die Besetzung. Dieser Akt
spiegelt die Verzweiflung eines Volkes, das sich betrogen
vorkommt von einem Prozess, der keinen Frieden
brachte, sondern das Leben nur schwieriger machte. Der
masslose Einsatz von Gewalt durch die Israeli hat das in
den 34 Jahren der Besetzung aufgebaute Gefühl, Opfer
einer Ungerechtigkeit zu sein, zur Explosion gebracht.
Wir können die gegenwärtige Intifada nur verstehen,
wenn wir die traumatischen Erfahrungen eines Volkes,
das so lange gelitten hat, in Rechnung stellen. Das
bedeutet aber keineswegs eine Rechtfertigung für
Angriffe, die gegen israelische Zivilisten geführt werden.
Dialog statt Selbstmordattentate
Dies führt uns zu dem, was israelische Medien als
Terrorismus bezeichnen, ein Begriff, der in einigen
Weltgegenden ohne weitere Überprüfung übernommen
wird. Dieser Begriff verwischt mindestens die Realität der
Besetzung, wenn er nicht geradezu das Recht auf
Widerstand, das auch vom Völkerrecht anerkannt wird,
verneint. Selbstmordattentate gegen israelische Zivilisten
sind unannehmbar und müssen von einem moralischen
Standpunkt aus verurteilt werden. Das ist jedoch nicht
alles, denn solche Anschläge machen die israelische
Bevölkerung zu unserem Feind und treiben sie in die
Arme der extremistischen Elemente in der israelischen
Politik und der Armee.
Ich glaube, dass eine Verhandlungslösung der einzig
gangbare Weg zur Beendigung des Konflikts ist. Um dies
zu erreichen, müssen wir das Verständnis und die
Unterstützung aller friedliebenden Menschen in der
israelischen Gesellschaft gewinnen und die gewöhnlichen
Bürger von der Möglichkeit der Koexistenz überzeugen.
Die Selbstmordattentate haben unglücklicherweise den
israelisch-palästinensischen Beziehungen einen grossen
Schaden zugefügt, und es braucht eine grosse
Anstrengung, diesen Schaden wieder gutzumachen.
Jetzt ist ein direkter und offener Dialog zwischen Israeli
und Palästinensern nötig, um zu zeigen, dass Frieden
trotz allem möglich ist. Vor ein paar Wochen haben wir
300 Israeli bei uns empfangen, denen es gelungen war,
den Belagerungsring zu durchbrechen und nach Ramallah
zu kommen, um zu zeigen, dass es für den Frieden einen
Partner gibt. Es braucht jedoch viel mehr Anstrengungen,
um die Kultur des billigen Populismus zu überwinden, die
in Krisen- und Kriegszeiten aufblüht.
Die alten Muster
Wenn wir an die Jahre nach Oslo als an einen
Fortbildungskurs zur Schaffung einer modernen und
demokratischen Nation denken, entdecken wir viele
Vorbehalte gegenüber unserem eigenen Populismus und
unserem neuerlichen Versuch, das Muster der heute im
Mittleren Osten bestehenden Regime auch bei uns zu
verwirklichen. Eines der Hindernisse für eine
Modernisierung der arabischen Welt war und ist, dass die
traditionelle politische Kultur gestärkt und in einen
neonationalistischen Diskurs integriert wird.
Verschiedene Teile des palästinensischen Regimes haben
diese Idee sehr wirkungsvoll angewandt, um die
Entstehung einer modernen pluralistischen Kultur zu
verhindern, die auf gesetzlich garantierten Rechten und
nicht auf familiären oder regionalen Banden fusst.
Ein weiteres Problem, dem die arabischen Regime
gegenüberstehen, ist ihre zweideutige Haltung gegenüber
der Zivilgesellschaft. Das Regime handelt als Vertreter
der Zivilgesellschaft und verunmöglicht deren
Unabhängigkeit, indem es ihr Veränderungspotenzial
kontrolliert oder zerstört. Verschiedene Vertreter des im
Entstehen begriffenen palästinensischen Regimes haben
in diese Richtung zu arbeiten begonnen. Der
Fundamentalismus ist ein allgemeines Phänomen in der
arabischen Welt. In ihrem Bemühen, einen billigen,
volkstümlichen Diskurs anzuwenden, geraten die
arabischen Regime in eine Konkurrenzsituation mit den
Fundamentalisten, deren Sprache authentischer und den
kulturellen Wurzeln der Bevölkerung näher ist. In dieser
Situation versuchen die Regime, mit Geschenken und
Konzessionen die Unterstützung der Fundamentalisten zu
erkaufen; diese haben jedoch ein anderes Programm, so
dass diese Regime zum ersten Opfer der gesuchten
Verbündeten werden. Man kann nicht sagen, dass das
palästinensische Regime diese Politik verfolgt hat, aber
gewisse Versuche in diese Richtung wurden
unternommen.
Unabhängigkeit durch Selbsterkenntnis
Wir sind eine Nation, die im Entstehen begriffen ist. In
der Intifada haben die oben erwähnten Erfahrungen eine
grosse Wirkung auf das individuelle und kollektive
Verhalten gezeigt, das auch in politische Aktion
umgesetzt wurde. Der Umstand, dass wir eine noch im
Aufbau begriffene Nation sind, hat Vor- wie Nachteile. Ein
Vorteil ist es, dass wir versuchen können, Fehler zu
vermeiden, die schon von anderen gemacht wurden.
Doch unser Nachteil ist es, dass wir von vorne beginnen
müssen, ohne eine wirkliche und tief verankerte
Erfahrung, wie moderne demokratische Institutionen
geschaffen und am Leben erhalten werden. Unser Kampf
für Unabhängigkeit ist auch eine Zeit der Suche nach
Selbsterkenntnis. Die Überzeugungen und Methoden, die
wir heute zur Anwendung bringen, haben einen
nachhaltigen Einfluss auf das Modell, das wir morgen
hervorbringen werden. Wir müssen dauernd unsere
Taktik gegenüber der Besetzung überprüfen und dabei
niemals vergessen, dass es letztlich um die Koexistenz
zwischen Israeli und Palästinensern geht; wir müssen
unsere politischen und gesellschaftlichen Strukturen
erneuern und dabei in unserem Denken die universellen
Werte betonen: Dies sind die wichtigsten
Voraussetzungen, die einen Prozess der Hoffnung
möglich machen.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 6. März 2002, Nr.54, Seite 11
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