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Die Sprache der Trümmer in Nablus und Jenin
Zwischen militärischen Kampf- und Strafmassnahmen
vk. Nablus/Jenin, Anfang Mai
Die Altstadt von Nablus weist nach der israelischen Eroberung punktuelle Zerstörungen
auf, ebenso die Stadt Jenin. Im Flüchtlingslager von Jenin ist das ganze Zentrum dem Erdboden
gleichgemacht. Dies deutet auf die Überwindung von heftigem Widerstand, in Jenin aber auch auf
eine gnadenlose Strafaktion.
Die beiden cisjordanischen Städte Nablus und Jenin haben
je ihre abschreckenden Mahnmale der jüngsten israelischen Wiederbesetzung,
welche nach dreiwöchigen Kämpfen mit einem Abzug aus den Stadtzentren und einer
verstärkten militärischen Blockade an der Peripherie
geendet hat. In Nablus sind es die Mukataa, der Hauptsitz
der Autonomieverwaltung, und das Yasmina-Viertel. Die
schon früher aus der Luft bombardierte Mukataa wurde,
nach dem Dutzend Einschusslöchern in der Fassade zu
schliessen, bei der jüngsten Eroberung nochmals mit
Panzerkanonen regelrecht durchsiebt. Und die zwei
500-jährigen Seifenfabriken von Yasmina mit ihren
ehrwürdigen Steingewölben, wo seit Jahrhunderten aus
Olivenöl und Ätznatron Kernseife gemacht worden war, hat
die Armee mit Kampfbombern und mit eigens gelegten
Sprengsätzen in einen Trümmerhaufen verwandelt. Der
israelische Militärsprecher machte damals geltend,
Palästinenserkämpfer hätten sich dort verschanzt. Am
30. April war an der Stelle der beiden aneinander
gebauten Monumente, die säuberlich aus den
angrenzenden Altstadtbauten herausgesprengt waren, nur
noch ein Schuttfeld zu sehen; bei ersten Räumarbeiten
hat die Stadtverwaltung die historischen Bausteine
weggeschafft und für einen eventuellen Wiederaufbau
aufgehoben.
Zerstörung historischer Gebäude
An mehreren Zugängen der Altstadt von Nablus, wo die
Fahrstrassen in enge Gassen und Bogengänge übergehen,
deuten zerstörte Häuser auf massive Angriffe mit Bomben,
Granaten und Raketen. Im Karyun-Viertel ist auch noch
eine Sandsackbastion der palästinensischen Kämpfer mit
Schiessscharten in einem Toreingang zu sehen; doch die
Israeli durchstiessen mit einem gepanzerten Bulldozer
kurzerhand eines der benachbarten Häuser und rollten die
Stellung von hinten auf. Bei einem Rundgang sind
mindestens ein Dutzend historische Steinhäuser mit
massiven Schäden zu sehen. Nach Erhebungen der
Stadtverwaltung wurden mindestens 60 Gebäude aus der
Periode von 1500 bis 1940 völlig zerstört, weitere 200
Häuser erlitten Teilschäden.
Die tausendjährige Khadra-Moschee ist zu 85 Prozent
zerstört, das türkische Shifa-Bad aus dem 19. Jahrhundert
bekam drei Raketentreffer und wurde zur Hälfte
beschädigt. Die katholische Kirche und die
Fatimiyah-Schule, beide 400-jährig, wurden stark in
Mitleidenschaft gezogen, und zahlreiche Bogengänge sind
vernichtet. Allein die Räumarbeiten mitten in dem Gewirr
historischer Bauten, von Erneuerungsprojekten gar nicht zu
reden, gestalten sich nach Ansicht von westlichen
Ingenieuren äusserst aufwendig.
Bürgermeister Shaka von Nablus gibt als Opferbilanz
ungefähr 80 Tote an, 90 Prozent von ihnen Zivilpersonen,
welche zum Teil unter den Trümmern ihrer Wohnhäuser
umkamen. Allein unter den Stadtangestellten, die trotz
der Ausgangssperre Nothilfe leisteten, sind 3 Todesopfer,
4 Verletzte und 14 Gefangene. Der Bürgermeister beklagt
massive Schäden an der Strom- und Wasserversorgung;
die Hälfte der Hochspannungsleitungen und drei Viertel
des Stadtnetzes waren unterbrochen. Besonders im alten
Kern waren Elektrizitäts-, Wasser- und Abwassersysteme
völlig zerstört. Am 1. Mai waren diese Dienste wieder
notdürftig hergestellt, die Strassen wurden eifrig befahren,
Schulen und Märkte hatten ihren Betrieb wieder
aufgenommen.
Widerstandsparolen in den Schutthaufen
Im Zentrum des Flüchtlingslagers von Jenin befindet sich
hingegen eine wahre Stätte des Elends. Im Viertel
Hawashin bietet eine Fläche von rund drei Fussballfeldern
das Bild eines von Menschen gemachten Erdbebens. Nach
Aussagen von Anwohnern brauchte die israelische Armee
hier, wo palästinensische Bewaffnete äusserst zähen
Widerstand leisteten, tagelang Kampfhelikopter und
Panzerkanonen. Nach abschliessenden Warnungen über
Lautsprecher begann schliesslich am 11. April ein
Bombardement mit F-16-Kampffliegern. Dann rückten
riesige gepanzerte Bulldozer ein und legten in dem Geviert
alle noch stehenden Haustrümmer endgültig flach. Die
Armee machte geltend, sie habe auf diese Art zahlreiche
Sprengladungen unschädlich gemacht. Rettungstrupps
fanden im Schutt später Leichen von Kämpfern und
Zivilpersonen.
Am 30. April war bei einem Besuch kein Leichengeruch
mehr festzustellen. Palästinenser suchten im Schutt nur
noch nach Habseligkeiten. Viele sassen einfach stumm da
und liessen ihr Leid für sich selbst sprechen. Auf dem
höchsten Schutthaufen waren an einer improvisierten
Gedenkstätte palästinensische und islamische Fahnen
aufgepflanzt. In frischer Schrift prangten an
Betontrümmern und Hauswänden auch schon wieder die
Widerstands- und Racheparolen der palästinensischen
Kämpfergruppen: «Wir werden nicht vergessen und nicht
vergeben.»
Zerstörungen ohne militärischen Wert
In den Häusergruppen um das Zentrum sind vielfach
entlang der Strasse auf beiden Seiten die Hausfassaden
weggerissen. Die Bewohner sassen in den offenen
Räumen und tranken Tee. Ein Baufachmann bemerkte,
dass solche Schäden nicht von einem Kampfpanzer
herrühren, sondern von Bulldozern mit einer grossen
Ladeschaufel. Zudem müssten die Fahrer dieser Apparate
grosse Erfahrung in solchen Operationen haben, denn die
Gefahr des Einsturzes eines ganzen Gebäudes über der
Maschine ist gross.
Es wird auch deutlich, dass diese Zerstörungen nur
teilweise der Zufahrt von Panzern dienten; vielfach wurden
ohne ersichtlichen Grund Häuser zerstört. Die
Palästinenser fassen das Ganze als eine monumentale
Strafaktion der Israeli für deren blutigen Verluste bei der
Eroberung des Lagers auf, insgesamt 23 Tote und
Dutzende von Verletzten. Auch nach Bombenangriffen in
Israel werden als gängige Strafmassnahme die
Wohnhäuser der Urheber zerstört. Die amerikanische
Organisation Human Rights Watch befand in einem Bericht
vom 3. Mai: «Die gewollte, systematische und umfassende
Zerstörung des ganzen Hawashin-Viertels im Lager von
Jenin stand eindeutig in keinem Verhältnis zu irgendeinem
angestrebten militärischen Ziel.»
Das Uno-Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser (UNRWA)
schätzt die Zahl der zerstörten Häuser auf rund 250, was
bei den durchwegs dreistöckigen Bauten 750 Wohnungen
entspricht; daraus ergibt sich die Überschlagsrechnung von
etwa 3500 obdachlosen Personen. Das ganze Lager hatte
15 000 Einwohner gezählt, die soweit möglich in ihre
Häuser zurückgekehrt sind. Mit Spenden aus arabischen
Ländern und von israelischen Arabern wurden in der Stadt
Jenin Notwohnungen für Betroffene angemietet. Die
UNRWA erhielt seit dem 16. April wieder Zugang zum
Lager, sie hat dann binnen zehn Tagen eine
Not-Wasserversorgung eingerichtet und ihre Schulen und
Kliniken wieder eröffnet. Internationale
Katastrophenhelfer, aus Norwegen, Frankreich und der
Schweiz, bargen in den ersten Tagen 280 Sprengkörper
und durchsuchten das ganze Gelände nach
Explosivstoffen; die Minengefahr besteht jedoch immer
noch. Experten untersuchen Hunderte von stark
beschädigten Häusern auf ihre Stabilität und die
Möglichkeit allfälliger Reparaturen.
Keine konkreten Hinweise auf Massaker
Die lokale Niederlassung des Roten Halbmonds
identifizierte bis Ende April insgesamt 53 Leichen und 150
Verletzte, die aus dem Lager in die lokalen Spitäler
eingeliefert wurden. Auf Grund der sehr zahlreichen
telefonischen Hilferufe während der Kämpfe rechnete sie
freilich mit sehr viel mehr Opfern, die sich nach dem
verspäteten Zugang zum Lager nicht auffinden liessen.
Die Armee verweigerte nach Aussagen des Roten
Halbmonds während zwölf Tagen sämtlichen
palästinensischen Ambulanzen den Zugang; auch nach
dem Abflauen der Kämpfe blieb der Ort sechs weitere
Tage gesperrt - damit die Armee die Spuren ihrer Taten
aufräumen konnte, wie die Palästinenser glauben.
Berichte von Anwohnern des Lagers, die von der
Erschiessung von Kämpfern, Gefangenen und Anwohnern
durch die Armee berichteten, nährten Gerüchte über
Massengräber und Massaker. Doch fanden sich davon
bisher keine Spuren im Lager; ein einziger Überlebender
wurde nach zehn Tagen verstört aus den Trümmern
gerettet. Wie viele der Vermissten still wieder aufgetaucht
sind, ist unklar. Einziger Anhaltspunkt sind Fernsehbilder
eines arabischen Senders, die möglicherweise einen
israelischen Transport von Leichen zeigten, sowie eine
Bemerkung von Verteidigungsminister Ben-Eliezer, er
rechne mit 48 Toten, wovon 45 Kämpfern.
Da eine Uno-Untersuchung wegen der Verweigerung
Ministerpräsident Sharons ausfällt, beschränken sich die
Abklärungen auf die Arbeit einer palästinensischen
Untersuchungskommission, welche am 20. April von Arafat
eingesetzt wurde, und die Berichte unabhängiger
Bürgerrechtsgruppen. Human Rights Watch belegt unter
anderem Fälle, in denen israelische Soldaten
palästinensische Zivilisten dazu zwangen, stundenlang als
Schutzschilde vor ihnen zu stehen, während sie auf
Palästinenserkämpfer feuerten.
Neue Zürcher Zeitung, International, 4. Mai 2002, Nr.102, Seite 3
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