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  Artikel aus der NZZ vom 11. Dezember 2001  

Welche Ziele in Sharons Anti-Terror-Krieg?

Zertrümmerung der Palästinenserbehörden 

In der ersten Woche seines Anti-Terror-Krieges hat Ministerpräsident Sharon mit erneuter Härte die palästinensischen Sicherheitskräfte angegriffen sowie den «Präsidenten» Arafat gezielt erniedrigt und in die Enge getrieben. Während Israel Repression fordert, zeichnet sich ein Zerfall der Grundlagen eines Palästinenserstaats ab.

vk. Limassol, 10. Dezember 

Nach einer Woche offener Kriegführung durch die
Regierung Sharon sind die politischen Horizonte des Autonomiechefs Arafat empfindlich eng geworden. Die US-Administration hat Israel im Voraus uneingeschränkte Zustimmung für die Selbstverteidigung gegen den palästinensischen Terrorismus gegeben, und das israelische Volk unterstützt weitestgehend ein hartes Zuschlagen. Der «Rais» persönlich sitzt in einer Art von Hausarrest in Ramallah; er kann weder die Stadt noch die Autonomiegebiete für irgendwelche diplomatischen Initiativen verlassen, seit Sharons Kabinett ihm die Ausreise am Sonntag verboten hat. Im Kontrast zu seinen Versicherungen vor der Presse soll der israelische Regierungschef seinem türkischen Amtskollegen Ecevit telefonisch anvertraut haben, er möchte Arafat überhaupt loswerden. Die Luftwaffe hat acht Kasernen von palästinensischen Polizeikräften oder Geheimdiensten in Trümmer gelegt und kann deren Bewegungen zwischen den autonomen Ortschaften beliebig unterbinden. Und der amerikanische Vermittler, General Zinni, welcher auf absehbare Zeit die einzige Aussicht auf einen politischen Ausweg zu dem von Bush versprochenen Palästinenserstaat bieten kann, drohte am Wochenende mangels Erfolgs mit seiner Abreise.

Wenig Angriffe auf Terroristen

Unter Ausnutzung der internationalen Anti-Terror-Kampagne hat Sharon den Osloer Friedensprozess so umgeschmiedet, dass aus der palästinensischen Autonomie ein Sicherheitsapparat nach Israels Bedürfnissen werden soll, ohne dass Israel auch nur eine einzige politische Konzession gewähren müsste. Und mit seinen unermüdlichen Anschuldigungen, wonach Arafat direkt für alle Terrorakte und Angriffe auf israelische Soldaten oder Siedler verantwortlich ist, vernebelt er die eine grundlegende Tatsache: In seinem Anti-Terror-Krieg greift Israel fast nie die Terroristen an, sondern die palästinensischen Institutionen, welche diese bekämpfen sollten. Seit dem Beginn der Kampagne am 3. Dezember bombardierten israelische F-16-Kampfflugzeuge und Helikopter die Kasernen der Sicherheitskräfte und des Geheimdienstes mitten in der Stadt Gaza, in Khan Yunis, Rafah, Ramallah und Jenin sowie die Umgebung von Arafats Amtssitzen in Gaza und Ramallah, während Bulldozer die Pisten des Flughafens im Gazastreifen zerstörten. Am Wochenende erschoss die Armee zwei Fatah-Kämpfer, und im Dorf Anabta bei Tulkarem nahm sie bei einem zehnstündigen Vorstoss, während dessen die Soldaten vier palästinensische Polizisten in ihrem Fahrzeug mit Schüssen töteten, 40 palästinensische Sicherheitsleute fest.

Wären da nicht flankierende Erklärungen israelischer Journalisten, gemäss denen sich eine Reihe von palästinensischen Sicherheitskräften zu den Untergrundmilizen geschlagen haben, so wäre ausser einem massiven Erpressungsmanöver gegen Arafat kein direktes militärisches Ziel von Sharons Kampagne auszumachen. Dass der weidwunde Autonomiechef wenn nötig immer noch Hamas- und Jihad-Militante verhaften kann, hat er in der letzten Woche durch 178 Festnahmen bewiesen. Doch dass er eine breit abgestützte nationalistische Bewegung wie Hamas zur klaren Ausgrenzung der Terroristen, im harten Kern der Kassam-Brigaden, und zur Aufgabe jeglicher Angriffe gegen israelische Zivilisten zwingen kann, ist äusserst zweifelhaft. Um die Terroristen endgültig zu marginalisieren, benötigt er ein soziales Klima des Aufschwungs, in welchem sie nicht mehr florieren können. Und dieses kann er allein, ohne die massive Beihilfe Israels und Amerikas zur Schaffung eines lebensfähigen Palästinenserstaats, nicht liefern. Indirekte politische Einwirkungen von Sharons Kampagne sind hingegen unschwer am Muster des israelischen Vorgehens abzulesen.

Die materielle Zertrümmerung der wichtigsten Institutionen der Autonomiebehörden hat Arafat nach Ansicht aller Kenner auf den Tiefpunkt seiner bisherigen Karriere als «Rais» gestürzt - und mit ihm natürlich die durch ihn verkörperte Keimzelle Palästinas. Sharons immer härtere Kollektivstrafen sprechen an sich dem Prinzip eines Fortschritts mittels Verhandlungen Hohn. Schon heute können die verschiedenen Minister des palästinensischen Kabinetts wegen der allgegenwärtigen israelischen Strassensperren gar nicht mehr zusammentreten. Ist Arafat erst einmal auf das Format eines Lokalbonzen in Ramallah reduziert und seine Polizei- und Spitzelmacht auseinander getrieben, so bleibt gar keine legitime Instanz mehr, welche die nationalen Aspirationen einer Mehrheit der Palästinenser vertreten könnte. Aufkeimender Widerspruch

Hinweise einer Zersetzung der Palästinenserbehörde fehlen nicht. So mischten sich am späten Sonntag vier Untergrundgruppen der Fatah- und der Hamas-Bewegung in die grosse Politik ein, indem sie eigenmächtig einen Waffenstillstand für Terrorangriffe bis zum Ende des Monats Ramadan erklärten - nur um das auch sogleich wieder zu widerrufen. Am 5. November hatte kein Geringerer als der Geheimdienstchef von Gaza, Mohammed Dahlan, aus Protest gegen Arafats falsche Politik den Rücktritt eingereicht, den er kurz darauf jedoch wieder zurücknehmen musste. Offenbar ist eine ganze junge Garde von Fatah-Aktivisten der Ansicht, der ganze Oslo-Prozess habe sich als Misserfolg erwiesen und als Ausweg bleibe einzig die Weiterführung der Intifada. Die Hamas-Führer werben ohnehin seit Jahren mit dem Postulat der gewaltsamen Befreiung von ganz Palästina.

All das bringt Sharon ein wachsendes Angebot lokaler palästinensischer Gesprächspartner, mit denen er beschränkte Abmachungen über Waffenruhe, Sicherheitsvorkehren und wirtschaftliche Privilegien wie Arbeits- und Exportbewilligungen aushandeln kann, die ihn aber nicht mit Fragen nach der Zukunft Palästinas belästigen. Das Palästinenserproblem ist zwar dann nicht gelöst, aber aufgelöst in unzählige unbedeutende Bestandteile. Und ob eine nationale Bewegung wie die Fatah oder die PLO, die während fast ihres ganzen Bestehens völlig an die Person Arafats gebunden waren, neu entstehen kann, darauf gäbe es wohl erst in vielen Jahren eine Antwort.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 11. Dezember 2001, Nr.288, Seite 3
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