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Artikel NZZ 5.
Februar 2002 |
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«Unsere Existenz als Besatzer zerstört uns von innen her»
Eine Stellungnahme zum israelisch-palästinensischen Konflikt
Von Rabbiner Tovia Ben-Chorin*
Der Konflikt zwischen Israel und den
Palästinensern hat tiefe Wurzeln. Der Autor des
folgenden Beitrages erinnert an die Etappen der
Konfrontation um das Mandatsgebiet Palästina
und an die jahrzehntelange Weigerung der
Araber, das Existenzrecht Israels anzuerkennen.
Er argumentiert auch, dass es keinen Frieden
geben könne, solange Israel Gebiete besetzt
halte, die eigentlich als palästinensisch anerkannt
seien.
Den israelisch-palästinensischen Konflikt gibt es schon
länger als hundert Jahre. Seit dem 29. November 1947,
als die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas in zwei
Staaten anerkannten, gewann die Auseinandersetzung an
Tempo. Solange die Briten in Palästina noch regierten
(1918-1948), konnte man sie anschuldigen, der einen
Partei besser als der anderen gesinnt zu sein. Wir
müssen verstehen, dass die beiden ethnischen Gruppen,
Juden und Palästinenser, in einem Gebiet leben, das man
nach ethnischen, religiösen und kulturellen Kriterien als
«überverheissen» definieren könnte. Jede Gruppe
entwickelte Mythen, Theorien über ihr Dasein und über
ihr Recht, dort zu leben. Ohne Zweifel bestand die
jüdische Bindung zur Region seit Urzeiten, schon bevor
der Islam im 7. Jahrhundert entstand. Auch nachdem der
zweite Tempel im Jahre 70 durch die Römer zerstört
worden war, hörte das jüdische Volk nicht auf, seine tiefe
Bindung zu seinem Land zu bewahren. Im Verlauf der
Jahrhunderte kamen immer wieder jüdische Gruppen, die
das Land besiedeln wollten. In der jüdischen Zivilisation
verfügt das Land Israel über einen zentralen Stellenwert.
Die Umsetzung der zionistischen Vision
Als im 7. Jahrhundert der Islam entstand, wurde
Jerusalem als heilige Stadt bezeichnet; die beiden
anderen heiligen Städte des Islam, Mekka und Medina,
befinden sich in Saudiarabien. Auch die Christen
bewahrten eine ständige Präsenz in Israel allgemein und
insbesondere in Jerusalem. Hier sehnte man sich aber
nicht danach, das Land zu bewohnen, sondern wollte als
Pilger dahin gelangen. Der Zionismus setzte die
messianische Vision der Rückkehr ins Land Israel in eine
politische Utopie um. Die Shoah war ein Katalysator zur
Geburt des Staates Israel, die am 14. Mai 1948 erfolgte.
In einer Entschliessung der Uno vom 27. November 1947
waren die Araber in Palästina, die Palästinenser, als
Nation anerkannt worden. Beide ethnischen Gruppen
erhielten das internationale Einverständnis, je einen
Staat zu gründen.
David Ben-Gurion, der Vorsitzende der Jewish Agency
und später erster Premierminister des Staates Israel,
bestärkte die Juden in Israel, ihren Anspruch zu
realisieren. Die palästinensische Führung hingegen
widersetzte sich der Gründung des Staates Israel. Mit der
Unterstützung der arabischen Staaten Libanon, Syrien,
Irak, Transjordanien, Ägypten und mit Freiwilligen aus
Saudiarabien, Libyen und Jemen wurde der junge Staat
angegriffen, in der Hoffnung, seine Gründung zu
verhindern und den Beschluss der Uno auf militärischem
Wege zu annullieren. Auch die Juden waren mit dem
Gebiet, das ihnen zugeteilt wurde, nicht zufrieden. Sie
nahmen aber, was sie erhielten.
In diesem Krieg hatten sich die Juden nicht nur
erfolgreich gewehrt, sondern es gelang ihnen auch, ihr
Gebiet zu vergrössern - zum Teil mit Hilfe von Flucht
oder Vertreibung der ansässigen Araber. Als Resultat des
einjährigen Krieges (1948/1949) annektierte das
Königreich Jordanien Cisjordanien und Ostjerusalem.
Während der 19 Jahre dauernden Annexion wurde den
Palästinensern erlaubt, die jordanische
Staatsbürgerschaft anzunehmen, hingegen wurde jede
ethnisch-politische Äusserung strengstens unterdrückt.
Der Gazastreifen im Südwesten wurde durch Ägypten
verwaltet, die Einwanderung nach Ägypten wurde den
Palästinensern verboten.
Die Schliessung der Meerengen von Tiran im Roten Meer
durch die Ägypter, die den Unterbruch der
Schifffahrtswege zwischen Israel und Asien zur Folge
hatte, führte am 5. Juni 1967 zum Ausbruch des
Sechstagekrieges. Sein Ergebnis war eine Erweiterung
des Staatsgebiets Israels. Im Jom-Kippur-Krieg, der am
6. Oktober 1973 begann, sah sich Israel mit einem
ägyptischen Angriff am Suezkanal im Süden und mit
einem syrischen an den Golanhöhen im Norden
konfrontiert. Dieser Krieg gefährdete das weitere
Bestehen des Staates. Ihm folgte ein erster
Friedensprozess: Ägypten erhielt den Sinai zurück, und
der Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel wurde
am 26. März 1979 unterzeichnet.
Ab 1993 gab es Kontakte mit Palästinensern, und
zwischen Jordanien und Israel wurde ein Friedensvertrag
abgeschlossen. Derselbe Rabin, der als Generalstabschef
die israelische Armee im Sechstagekrieg zu einem
grossen Sieg geführt hatte, der bei der ersten Intifada
verlauten liess, man solle die Arme und Beine der
Demonstranten brechen, sprach im September 1993 auf
dem Rasen des Weissen Hauses, als er und Arafat, der
damalige Vorsitzende der palästinensischen
Befreiungsfront, einander die Hand reichten: «Lasst uns
keinen Krieg mehr führen.» Im Gegensatz zur früheren
Ideologie und Politik seiner Partei anerkannte er das
Existenzrecht eines palästinensischen Staates und
erlaubte Arafat, nach Cisjordanien und in den
Gazastreifen zurückzukehren. Rabin wurde von dem
religiös-nationalistischen Eiferer Yigal Amir am
4. November 1995 in Tel Aviv am Ende einer
Massenveranstaltung zur Unterstützung der
Friedenspolitik ermordet.
Zwei Optionen für Israel
Wie weiter? Wir sind bei einem neuen Kapitel der
Ordnung der Beziehungen zwischen den Juden in Israel
und den Palästinensern angelangt. Wir anerkennen das
nationale Existenzrecht beider Gruppen. Dieser Prozess
der Anerkennung führt uns, die Juden Israels (und nach
meiner Meinung die Juden der ganzen Welt), zu
verschiedenen Schlussfolgerungen. Vor uns stehen zwei
grundverschiedene Optionen. Die eine besteht darin, die
erworbene Position der Macht zu verwenden. Dies ist
eine politische Position, die wir in der Vergangenheit zur
Zeit der davidischen Monarchie (etwa 1000 vor der
christlichen Zeitrechnung) innehatten oder zur Zeit der
Makkabäer (164-37 v. Chr.). Diese Art der
Machtausübung hält vor der Geschichte nicht stand. Die
Unterdrückung eines anderen Volkes wird eines Tages
durchbrochen, und das unterdrückte Volk erreicht die
angestrebte Freiheit. Der geistige Widerstand kann nicht
gebrochen werden. Wenn man einen unabhängigen Staat
- den Staat Israel - errichtet, dessen Existenzrecht von
den angrenzenden Ländern bestritten wird, braucht man
eine starke Armee. Der Staat Israel hat dieses Ziel
erreicht.
Die zweite Option besteht darin, einen Frieden mit den
Gegnern anzustreben. Dieses Streben ist möglich, wenn
dahinter eine Militärmacht steht, die derjenigen des
Gegners überlegen ist. Nicht alle Araber freuen sich auf
den Frieden mit Israel, die meisten sind aber zum
Schluss gelangt, es sei mit kriegerischen Mitteln nicht zu
besiegen. Die militärische Macht erlaubt es, sich
Alternativen zu überlegen.
Erstens sollte man grosszügig sein. Israel bewies dies bei
den Verhandlungen mit Ägypten. Ein kalter Frieden ist
einer heissen Grenze mit viel Territorium - der ganze
Sinai wurde Ägypten zurückgegeben - vorzuziehen.
Zweitens sollten wir erkennen, und dies dem Rest der
Welt ins Bewusstsein rufen, dass es Israel war, das es
den Palästinensern ermöglicht hat, damit zu beginnen, ihr
Recht auf einen eigenen Staat zu verwirklichen. Dieser
Prozess begann noch in der Zeit vor den Verträgen von
Oslo, als Israel den Palästinensern ermöglichte, eigene
Universitäten zu errichten, was die Jordanier während
der 19 Jahre ihrer Herrschaft verboten hatten. Es gab
Raum für ein eigenes kulturelles Leben mit einem
satirischen Theater in Jerusalem, Sportvereinen und
Erziehungsplänen nach jordanischem Muster.
Keine gleichberechtigten Partner
Doch parallel dazu wurde die israelische Siedlungspolitik
in Cisjordanien und im Gazastreifen umgesetzt, welche
die Bildung eines palästinensischen Staates bedroht. Die
Arbeitspartei ermöglichte die Gründung von Siedlungen
durch Personen, welche die Gründung eines
palästinensischen Staates verhindern wollten, der Likud
unterstützte diese massiv. Dazu kamen Menschen, die
Wohngelegenheiten suchten, die besser und günstiger
waren als innerhalb der alten israelischen Grenzen.
Drittens müssen wir anerkennen, dass in der Region zwei
Mentalitäten existieren. Israeli denken
westlich-amerikanisch, im Gegensatz zur hergebrachten
levantinischen Denkweise des Nahen Ostens. Es ist nicht
nur wichtig, was man der Gegenseite vorschlägt, sondern
auch die Ausdrucksweise und die Politik, die in den
Verhandlungen angewendet werden.
Viertens ist das Gespräch nicht symmetrisch. Die
Palästinenser sind im Zustand der Besatzung, wir sind die
Besetzer. Dies erlaubt kein Gespräch zwischen
gleichberechtigten Partnern. Israel bestimmt von Fall zu
Fall Ort, Zeitpunkt und Form der Verhandlungen. Die
palästinensische Führung ist nicht in der Lage, ihrer
Bevölkerung eine positive Entwicklung ihrer Situation
vorzuweisen, so dass der Terror die einzige Möglichkeit
bleibt, den Protest zum Ausdruck zu bringen und dafür zu
sorgen, dass ihr Anliegen nicht von der Agenda
verschwindet. Solange wir die Gebiete besetzen, die
eigentlich als palästinensisch anerkannt wurden, und das
palästinensische Leben durch Absperrungen
beeinträchtigen, die als Reaktion auf den Terror
verordnet werden, kann kein Friede herrschen.
Fünftens: So wie Arafat, der Vorsitzende der
palästinensischen Autonomiebehörde, durch die
Konstellation seiner Koalition Probleme hat, verschiedene
Gruppen unter Kontrolle zu halten, hat auch der
israelische Premierminister Sharon ernsthafte Probleme
mit den Siedlern und mit den Parteien innerhalb seiner
Koalition, die diese unterstützen. Seine Koalition ist so
breit, dass es schwierig ist, eine klare Politik zu
betreiben. Es können nur interne Kompromisse
geschlossen und punktuelle Themen abgehandelt
werden.
Sechstens erfolgt die obsessive Beschäftigung mit den
Palästinensern im Besonderen und mit der Sicherheit im
Allgemeinen zulasten der gesellschaftlichen internen
israelischen Probleme. Unsere Existenz als Besatzer -
erfolge diese zum Selbstschutz oder um Ordnung zu
schaffen, den Terror zu bekämpfen und um zu einer
vernünftigen Vereinbarung mit den Palästinensern zu
gelangen - zerstört uns von innen her. Soldaten sind
überfordert, wenn sie «legitime» Gewalt im Kampf gegen
den Terror und gegen Demonstranten - meistens
Jugendliche! - anwenden und zu Hause gleichzeitig die
demokratischen Spielregeln einhalten sollen. Die
Gewalttätigkeit schleicht sich immer stärker in das Leben
der israelisch-jüdischen Gesellschaft ein. Zudem hat die
zweite Intifada zu scharfen Protestaktionen der
arabisch-israelischen Bevölkerung geführt, die von den
Demonstranten einen hohen Blutzoll gefordert haben.
Dieser Umstand ist sehr besorgniserregend, so etwas
geschah seit der Gründung des Staates noch nie.
Der Friede kann mit einem komplizierten Mosaik
verglichen werden, das sorgfältig zusammengesetzt
werden muss. Der Staat Israel muss für den Frieden in
gleicher Weise Risiken eingehen, wie er dies in seinen
Kriegen getan hat. Israel begann, den Palästinensern
Rechte zu gewähren, wie dies keine arabische Regierung
getan hatte. Es wurden autonome Gebiete definiert, und
der sich im Ausland - in Libanon und in Tunesien -
befindenden palästinensischen Führung wurde erlaubt, in
ihre Heimat zurückzukehren. Diese Führung, die von den
Israeli als Gesprächspartner akzeptiert wurde und die
internationale Anerkennung erhielt, bildet heute die
palästinensische Autonomiebehörde. So begann der
Prozess der Realisierung der Rechte des
palästinensischen Volkes, wie sie von der Uno und in der
israelischen Unabhängigkeitserklärung anerkannt
wurden.
Die Shoah und das Leiden der andern
Gegen Ende noch eine Anmerkung über uns selber, die
Juden. Das jüdische Volk ist immer noch dabei, die
Leiden der Shoah zu verarbeiten. Für viele ist das Leiden
der Shoah ein identitätsstiftendes Element, das andere
Elemente unterstützt oder ersetzt. Ein Teil unseres
Volkes ist dermassen mit der Erinnerung an die Shoah
beschäftigt, dass er keine Möglichkeit sieht, das Leiden
anderer wahrzunehmen. Ich meine damit das Leiden der
Palästinenser, mögen sie daran selber schuld sein oder
nicht. Ein Palästinenser, der in Israel gearbeitet hat und
jetzt arbeitslos ist, der über kein Einkommen verfügt, um
seine Familie zu erhalten, und der bewusst oder zufällig
in einen Zwischenfall mit Siedlern oder der Armee
verwickelt ist, so dass sein Haus zerstört wird, erfährt
existenzielles Leiden. Die Leiden der Armut, der
Resignation, der Frustration, der Vernachlässigung sind
für jeden Menschen schrecklich.
Dies ist heute die Lage vieler Palästinenser. Sie wohnen
an der Grenze zu Israel. Sie werden mit uns zusammen
leben, im Terror, im Krieg oder in Frieden. «Es gibt
keinen Gesprächspartner», sagt die Mehrheit in Israel.
Wenn du mit militärischer Macht regierst, wisse: Ein Volk
lässt sich nicht mit Waffengewalt unterdrücken. Die
physische Kraft ist stets schwach, der Frieden ist stärker.
Frieden verstärkt sich selbst, sofern es sich dabei nicht
um einen blossen Waffenstillstand handelt. Nur im
Frieden wird man stärker. Wir dürfen einer Handvoll
Verrückter nicht erlauben, den Friedensprozess zu
zerstören. So wie wir für unsere nachfolgenden
Generationen eine bessere Zukunft wünschen, tun dies
auch die Palästinenser.
Um Frieden zu schaffen, bedarf es nicht nur des
konzentrierten Strebens nach Vereinbarungen, sondern
es müssen auch vertrauenbildende Massnahmen
getroffen werden. Als Juden fällt es uns schwer zu
akzeptieren, dass wir gegenwärtig im Mittleren Osten
über den mächtigsten und modernsten Staat verfügen.
Wir haben einen starken selbständigen Staat geschaffen,
gefallen uns aber auch im Land unserer Vorfahren in der
Rolle der Verfolgten. Wir haben uns nicht von der
Diaspora-Mentalität befreit, die im Nichtjuden den
potenziellen oder aktiven Feind sieht. Zum ersten Mal seit
der Zerstörung des zweiten Tempels befinden wir uns in
einer Machtposition, die es uns erlaubt, grosszügig zu
sein, damit wir uns auf unsere Aufgaben innerhalb
Israels konzentrieren können. Werden wir diese Prüfung
bestehen?
* Der Autor ist seit sechs Jahren Rabbiner der Jüdischen
Liberalen Gemeinde Or Chadasch in Zürich. Er wurde in
Jerusalem geboren und arbeitete während dreissig
Jahren in liberalen Gemeinden in Israel. Er diente im
israelischen Militär und kämpfte in dessen Reihen in
mehreren Kriegen.
Neue Zürcher Zeitung, Ressort Ausland, 5. Februar 2002,
Nr.29, Seite 9
Copyright © Neue Zürcher Zeitung AG
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