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Artikel aus  NZZ vom 9. April 2003

Utopia im Irak

Hoffnungen auf baldige Demokratie sind unrealistisch

Im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Sturz von Saddam Husseins Regime ist auf amerikanischer und britischer Seite viel von einer demokratischen Zukunft im Irak die Rede. Der Autor des folgenden Beitrags hält solche Vorstellungen angesichts der Realitäten in andern Ländern der Region und der Erfahrungen in Ex-Jugoslawien oder den posttotalitären Gesellschaften der früheren Sowjetunion für unrealistisch.

Von Shlomo Avineri*

Die Vorstellung, dass der Irak nach dem Ende von Saddam Hussein auf dem Weg zu einer mehr oder weniger demokratischen Gesellschaft - oder gar zu einem Vorbild für andere arabische Nationen - sein könnte, ist eine gefährliche Illusion. Solche Hoffnungen sind völlig utopisch und unrealistisch.

Die Erfahrungen in Osteuropa

Man kann diese Frage aus drei verschiedenen Perspektiven betrachten: erstens unter dem Gesichtspunkt der Erfahrungen in den postkommunistischen Staaten nach 1989, zweitens im Zusammenhang mit den allgemeinen Bedingungen in den arabischen Ländern des Mittleren Ostens; und drittens unter dem Aspekt der spezifischen demographischen, religiösen und ethnischen Verhältnisse im Irak. Unter allen drei Gesichtspunkten sind die Aussichten für Demokratie im Irak mager.

Die Erfahrung in Osteuropa hat gezeigt, dass allein mit der Durchführung von Wahlen noch keine Demokratie entsteht. Für eine wirklich funktionierende Demokratie braucht es eine demokratische Kultur, das heisst die ganze Fülle von Institutionen und Normen, die man für gewöhnlich unter dem Begriff «Bürgergesellschaft» zusammenfasst: die Tradition von Freiwilligenorganisationen, die Akzeptierung von Nonkonformismus und Toleranz, ein gemeinsamer Glaube an die Würde des Individuums, eine autonome Sphäre für wirtschaftliches Handeln, die Trennung der politischen Gewalt von religiöser Legitimität. Solche Normen und Institutionen können nicht ohne weiteres exportiert werden. Die westlichen Gesellschaften benötigten Jahrhunderte, um sie zu entwickeln. Und es gab auf diesem Wege viele schwere Rückfälle: das lange Andauern von Sklaverei und Rassendiskrimination in den USA, das Auftauchen des Faschismus in vielen Ländern Kontinentaleuropas in den dreissiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Diejenigen, die wie Francis Fukuyama glaubten, dass die blosse Abschaffung der kommunistischen Regime ein universales Aufblühen der Demokratie zur Folge haben werde, wurden tief enttäuscht.

Heute kann man erkennen, dass diejenigen Länder, die sich zu konsolidierten Demokratien gewandelt haben - Polen, Ungarn, Tschechien - deshalb Erfolg hatten, weil dort bis zu einem gewissen Grade die Infrastrukturen einer Bürgergesellschaft bereits existierten und den Kommunismus irgendwie überleben konnten. In andern Ländern - Russland ist hier das prominenteste Beispiel - existierten diese Voraussetzungen nicht, und deshalb verläuft dort der Übergang zu einer wirklich freien, offenen und demokratischen Gesellschaft sehr holprig, um das Mindeste zu sagen. Nach den chaotischen Jahren unter Jelzin erfährt nun Russland eine gewisse Stabilisierung und Konsolidierung. Aber es ist die Stabilität eines halbautoritären Regimes, also eine autoritäre Realität «mit einem freundlichen Gesicht». Dass Länder wie die Ukraine, Weissrussland oder die zentralasiatischen Republiken immer noch meilenweit von einigermassen demokratischen Verhältnissen entfernt sind, ist offenkundig.

Ohne demokratische Tradition

Der arabische Mittlere Osten bietet ein anderes Vergleichsfeld - und kein besonders ermutigendes. Ungeachtet enormer Unterschiede bezüglich Grösse, Reichtum, Bevölkerungsdichte und Geschichte gibt es in keinem arabischen Land funktionierende demokratische Verhältnisse. Es gibt auch keine wirkliche demokratische Opposition wie die Solidarnosc in Polen oder die Charta 77 in Tschechien. Bisher ist auch noch kein arabischer Gorbatschew aufgetaucht. Die Gründe dafür mögen komplex sein. Sie werden erst nach dem 11. September 2001 umfassender diskutiert - hauptsächlich in amerikanischen Think-Tanks und unter arabischen Intellektuellen. Es ist offensichtlich, dass dieser «arabische Sonderweg» nur wenig mit dem Islam zu tun hat: Die Entwicklungen in der Türkei, Indonesien, sogar in Pakistan und Iran legen die Vermutung nahe, dass der Islam als solcher kein Hindernis für demokratische Bewegungen darstellt.

Der Umstand, dass es im Irak eine breite und gebildete Mittelschicht gibt, wird mitunter als Hoffnungszeichen für eine Demokratisierung nach Saddams Ende benützt. Das ist ein Trugschluss. In Deutschland gab es vor der Nazizeit eine der am höchsten entwickelten Mittelklassen in Europa. Es kommt nicht allein auf die Existenz einer Bourgeoisie (um diesen etwas altmodischen Begriff zu gebrauchen) an, sondern auf deren Werte, Normen und Verhaltensweisen. Das Fehlen jeder bedeutenden Opposition im Irak während mehr als zweier Jahrzehnte ist nicht geeignet, den Glauben in die demokratischen Neigungen der vielzitierten Mittelklasse zu ermutigen. Schliesslich zu den demographischen Realitäten im Irak. Die Kriege im früheren Jugoslawien haben gezeigt, wie schwierig es ist, eine posttotalitäre pluralistische Demokratie in Ländern zu etablieren, die durch ethnische und religiöse Gräben gespalten sind. Historisch gesehen ist der Irak ein Land, dass durch den britischen Imperialismus aus drei verschiedenen Provinzen des alten Ottomanischen Reiches zusammengeschustert wurde. Es ist richtig, das Saddam-Regime als eine Diktatur der sunnitischen Minderheit über die schiitische Mehrheit und der Kurden darzustellen. Doch formale Demokratie im Irak würde bedeuten, dass die schiitische Mehrheit die völlige Übermacht im Lande bekäme. Wäre das, neben dem schiitischen Nachbarn Iran, wirklich eine vorteilhafte Entwicklung? Sind wir sicher, dass sich dann nicht wieder eine Situation wie in Algerien - wo Islamisten dabei waren, demokratische Wahlen zu gewinnen, um dann durch eine säkulare Elite brutal gestoppt zu werden - wiederholen würde?

Die Antwort, die mitunter auf diese internen Schismen im Irak gegeben wird, heisst «Föderalismus». Das klingt gut. Doch Föderalismus funktioniert nur in Gesellschaften, in denen demokratische Werte tief verankert sind - wie in den USA, in Kanada, der Schweiz oder im Westdeutschland der Nachkriegszeit. Zur Lösung ethnischer Probleme in Gesellschaften, die immer noch mit dem Übergang zur Demokratie kämpfen, hat sich die Idee des Föderalismus als Fehlschlag erwiesen: Bosnien ist dafür ein Beispiel, auch Zypern zeigt, dass Föderalismus kein Allheilmittel ist.

Ägypten oder Syrien als Modell?

Was also kann im Irak erwartet werden? Man muss hoffen, dass das Büro für Wiederaufbau und humanitäre Hilfe (ORHA) im Pentagon die Erwartungen nicht zu hoch steckt. Seine unmittelbaren Aufgaben sind naheliegend und dürften verhältnismässig leicht zu lösen sein: humanitäre Hilfe, die Reparatur der Kriegsschäden, Einsatz der Öleinnahmen für den Wiederaufbau.

Doch in Bezug auf die längerfristigen Ziele sind Nachkriegsdeutschland oder Japan kaum relevante Beispiele. Wenn die Verantwortlichen im ORHA sich umschauen, könnten sie sich vielleicht mit weniger als einer idealen Demokratie zufrieden geben. Und wenn sie und das irakische Volk Glück haben, könnten Verhältnisse wie in Ägypten - ein mildes autoritäres Regime, aber bei weitem noch keine freie Gesellschaft - verwirklicht werden. Mit weniger Glück wären ähnliche Zustände wie in Syrien möglich: eine nicht so milde autoritäre, aber eine pragmatische und nicht übermässig kriegerische Herrschaft. Ist das enttäuschend? Zumindest ernüchternd. Aber alles andere wäre eine gefährliche Utopie.

* Der Autor ist Professor für politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er war nach 1989 an verschiedenen internationalen Projekten zum Aufbau der Demokratie in Osteuropa beteiligt.

Neue Zürcher Zeitung, International, 9. April 2003, Nr.84, Seite 6

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