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Artikel aus NZZ 9. April 2003

 

Indien und Pakistan drohen sich mit Krieg

Neues Säbelrasseln im Schatten des Irak-Konflikts

Das jüngste Attentat islamistischer Extremisten im indischen Teil Kaschmirs hat die Beziehungen zwischen den südasiatischen Nachbarn Indien und Pakistan weiter verschlechtert. Ausserdem ziehen beide Seiten den Krieg gegen den Irak als Argument für die Legitimität eines Waffengangs gegen den Erzfeind heran.

 

By. Delhi, 8. April

Am 24. März sind bei einem Attentat auf Hindus in Nadimarg, einem Dorf im indischen Teil Kaschmirs, 24 Personen getötet worden. Das Ereignis hat die Beziehungen zwischen den südasiatischen Nachbarn Indien und Pakistan erneut belastet, und der Präventivkrieg im Irak liefert beiden Seiten Argumente für einen bewaffneten Konflikt in der eigenen Region. Neben den Artillerieangriffen haben auch die verbalen Salven über die Waffenstillstandslinie hinweg einen neuen Grad an Intensität erreicht. Das kaltblütige Massaker an 24 unschuldigen Dorfbewohnern, die Hälfte von ihnen Kinder und Frauen, war für die indische Öffentlichkeit ein Schock, umso mehr als die angekündigten «heilenden Gesten» der neuen Provinzregierung viele im Glauben gewiegt hatten, dass sich nach 14 Jahren Bürgerkrieg und über 30 000 Toten endlich ein Ende der Agonie abzeichne.

«Ein legitimeres Ziel»

Die Regierung in Delhi machte Islamabad und dessen anhaltende Unterstützung des kaschmirischen Terrors für den Anschlag verantwortlich. Pakistan verwahrte sich gegen die Anschuldigung. Eine derartige Untat nütze lediglich den Hindu- Hardlinern, liess sich Aussenminister Kasuri vernehmen, und er liess durchblicken, dass sie auf das Konto von Agents provocateurs gehen könnte. Es war aber die gemeinsame Stellungnahme des amerikanischen und des britischen Aussenministers, welche Indien in Rage brachte. Diese verurteilten das Attentat und forderten beide Seiten zur Wiederaufnahme des Dialogs auf. Nach Ansicht Delhis grenzt eine solche Forderung von Seiten zweier Staaten, die gerade einen Angriffskrieg gegen den Irak begonnen haben, an Impertinenz.

Aussenminister Sinha ging so weit, zu erklären, Pakistan stelle ein legitimeres Ziel eines Präventivschlags dar als der Irak. Pakistan sei der Unterstützung von Terrorgruppen überführt worden, es besitze Massenvernichtungswaffen und habe ein schweres Demokratiedefizit. Washington reagierte mit einer wortreichen Erklärung, wonach beide Fälle «vollständig unvergleichbar» seien. Ein Sprecher des pakistanischen Aussenministeriums drehte den Spiess um und meinte, es sei vielmehr Indien, gegen das ein legitimer Präventivkrieg geführt werden könne.

Lavieren zwischen den Erzfeinden

Die amerikanische Politik der Gleichbehandlung der beiden Erzfeinde auf dem Subkontinent hat gute Gründe. Für Washington bleibt Islamabad im Kampf gegen den Terrorismus einer der wichtigsten Verbündeten. Die zahlreichen Verhaftungen von Spitzenleuten der Kaida in den letzten Monaten haben gezeigt, dass Pakistan das personelle und vielleicht auch operationelle Zentrum des Terrornetzwerks bleibt. Das Land bietet einen idealen politischen und sozialen Nährboden für die Kaida. Die beiden westlichen Provinzen sind Rückzugsgebiete der Taliban und für eine Befriedung Afghanistans von entscheidender Bedeutung. Die Grenzprovinzen werden inzwischen von islamistischen Parteien regiert. Ein Dutzend militanter Kaschmir-Gruppen sollen auf ein Anhängerpotenzial von 200 000 Personen blicken können. Seit Ausbruch des Irak-Kriegs haben diese Gruppen weitere Anhänger gewonnen. Das Ausbildungslager der Lashkar-e-Tayba - einer verbotenen islamistischen Terrororganisation - in der Nähe von Lahore ist laut einem Bericht der Londoner «Sunday Times» überfüllt. Pakistan bleibt allerdings nicht verborgen, dass das amerikanische Interesse keiner Wahlpartnerschaft entspringt. In den Worten der «Daily Times» in Lahore zielt es einzig und allein darauf, zu verhindern, dass Pakistan zu einem Verbrecherstaat werde. Die USA wollten die Eliminierung der Terrornetzwerke so weit wie möglich in Zusammenarbeit mit der Regierung erreichen, zumindest solange der Irak-Feldzug noch nicht beendet sei.

Dies mag der Grund für die (in indischen Augen) zahme Reaktion auf das jüngste Massaker sein, die es vermied, die Hintermänner dieses Terrorakts im pakistanischen Geheimdienst-Umfeld zu suchen. Zudem verhängten die USA, nachdem bekannt geworden war, dass Pakistan Zentrifugen zur Aufbereitung von waffenfähigem Plutonium nach Nordkorea exportiert hatte, keine Sanktionen gegen das Land. Der Bruch des Proliferationsverbots wurde allein den «Kahuta Research Laboratories» angekreidet, als seien diese eine private Firma und nicht das Zentrum der pakistanischen Atomwaffenentwicklung.

Indien beobachtet dieses durchsichtige Hofieren mit einer Mischung aus Ärger und Pragmatismus. Es fühlt sich durch das Tolerieren des grenzüberschreitenden Terrors in Kaschmir vor den Kopf gestossen. Gleichzeitig zieht es daraus die Lehre, sich nicht völlig in die Arme des neuen strategischen Partners USA zu werfen, und will sich stattdessen im Sicherheitsbereich möglichst rasch auf eigene Füsse stellen. Regierungspolitiker werden nicht müde, das Land auf strategische Selbständigkeit einzuschwören. In Bangalore weihte der Minister für Informationstechnologie kürzlich einen neuen Supercomputer ein - den fünftstärksten weltweit. Dessen Zweckbestimmung sei unter anderem der Einsatz in strategischen Anlagen, betonte er. Verteidigungsminister Fernandes kündigte noch für dieses Jahr den Test einer Langstreckenrakete des Typs Agni an. Bei der Nukleartechnologie hofft Indien, die amerikanischen Exportsperren umgehen zu können, indem es wieder in Moskau anklopft. Dieses hat bereits früher die strengen Auflagen der «Nuclear Supplier Group» sehr extensiv ausgelegt.

 Neue ZürcherZeitung, 9.4.2003, International, Nr.   , S.4

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