By. Delhi, 8. April
Am 24. März sind bei einem Attentat auf Hindus in
Nadimarg, einem Dorf im indischen Teil Kaschmirs, 24 Personen getötet
worden. Das Ereignis hat die Beziehungen zwischen den südasiatischen
Nachbarn Indien und Pakistan erneut belastet, und der Präventivkrieg im
Irak liefert beiden Seiten Argumente für einen bewaffneten Konflikt in
der eigenen Region. Neben den Artillerieangriffen haben auch die verbalen
Salven über die Waffenstillstandslinie hinweg einen neuen Grad an
Intensität erreicht. Das kaltblütige Massaker an 24 unschuldigen
Dorfbewohnern, die Hälfte von ihnen Kinder und Frauen, war für die
indische Öffentlichkeit ein Schock, umso mehr als die angekündigten «heilenden
Gesten» der neuen Provinzregierung viele im Glauben gewiegt hatten, dass
sich nach 14 Jahren Bürgerkrieg und über 30 000 Toten endlich ein
Ende der Agonie abzeichne.
«Ein legitimeres Ziel»
Die Regierung in Delhi machte Islamabad und dessen
anhaltende Unterstützung des kaschmirischen Terrors für den Anschlag
verantwortlich. Pakistan verwahrte sich gegen die Anschuldigung. Eine
derartige Untat nütze lediglich den Hindu- Hardlinern, liess sich
Aussenminister Kasuri vernehmen, und er liess durchblicken, dass sie auf
das Konto von Agents provocateurs gehen könnte. Es war aber die
gemeinsame Stellungnahme des amerikanischen und des britischen
Aussenministers, welche Indien in Rage brachte. Diese verurteilten das
Attentat und forderten beide Seiten zur Wiederaufnahme des Dialogs auf.
Nach Ansicht Delhis grenzt eine solche Forderung von Seiten zweier
Staaten, die gerade einen Angriffskrieg gegen den Irak begonnen haben, an
Impertinenz.
Aussenminister Sinha ging so weit, zu erklären, Pakistan
stelle ein legitimeres Ziel eines Präventivschlags dar als der Irak.
Pakistan sei der Unterstützung von Terrorgruppen überführt worden, es
besitze Massenvernichtungswaffen und habe ein schweres Demokratiedefizit.
Washington reagierte mit einer wortreichen Erklärung, wonach beide Fälle
«vollständig unvergleichbar» seien. Ein Sprecher des pakistanischen
Aussenministeriums drehte den Spiess um und meinte, es sei vielmehr
Indien, gegen das ein legitimer Präventivkrieg geführt werden könne.
Lavieren zwischen den Erzfeinden
Die amerikanische Politik der Gleichbehandlung der beiden
Erzfeinde auf dem Subkontinent hat gute Gründe. Für Washington bleibt
Islamabad im Kampf gegen den Terrorismus einer der wichtigsten Verbündeten.
Die zahlreichen Verhaftungen von Spitzenleuten der Kaida in den letzten
Monaten haben gezeigt, dass Pakistan das personelle und vielleicht auch
operationelle Zentrum des Terrornetzwerks bleibt. Das Land bietet einen
idealen politischen und sozialen Nährboden für die Kaida. Die beiden
westlichen Provinzen sind Rückzugsgebiete der Taliban und für eine
Befriedung Afghanistans von entscheidender Bedeutung. Die Grenzprovinzen
werden inzwischen von islamistischen Parteien regiert. Ein Dutzend
militanter Kaschmir-Gruppen sollen auf ein Anhängerpotenzial von 200 000
Personen blicken können. Seit Ausbruch des Irak-Kriegs haben diese
Gruppen weitere Anhänger gewonnen. Das Ausbildungslager der
Lashkar-e-Tayba - einer verbotenen islamistischen Terrororganisation - in
der Nähe von Lahore ist laut einem Bericht der Londoner «Sunday Times»
überfüllt. Pakistan bleibt allerdings nicht verborgen, dass das
amerikanische Interesse keiner Wahlpartnerschaft entspringt. In den Worten
der «Daily Times» in Lahore zielt es einzig und allein darauf, zu
verhindern, dass Pakistan zu einem Verbrecherstaat werde. Die USA wollten
die Eliminierung der Terrornetzwerke so weit wie möglich in
Zusammenarbeit mit der Regierung erreichen, zumindest solange der
Irak-Feldzug noch nicht beendet sei.
Dies mag der Grund für die (in indischen Augen) zahme
Reaktion auf das jüngste Massaker sein, die es vermied, die Hintermänner
dieses Terrorakts im pakistanischen Geheimdienst-Umfeld zu suchen. Zudem
verhängten die USA, nachdem bekannt geworden war, dass Pakistan
Zentrifugen zur Aufbereitung von waffenfähigem Plutonium nach Nordkorea
exportiert hatte, keine Sanktionen gegen das Land. Der Bruch des
Proliferationsverbots wurde allein den «Kahuta Research Laboratories»
angekreidet, als seien diese eine private Firma und nicht das Zentrum der
pakistanischen Atomwaffenentwicklung.
Indien beobachtet dieses durchsichtige Hofieren mit einer
Mischung aus Ärger und Pragmatismus. Es fühlt sich durch das Tolerieren
des grenzüberschreitenden Terrors in Kaschmir vor den Kopf gestossen.
Gleichzeitig zieht es daraus die Lehre, sich nicht völlig in die Arme des
neuen strategischen Partners USA zu werfen, und will sich stattdessen im
Sicherheitsbereich möglichst rasch auf eigene Füsse stellen.
Regierungspolitiker werden nicht müde, das Land auf strategische Selbständigkeit
einzuschwören. In Bangalore weihte der Minister für
Informationstechnologie kürzlich einen neuen Supercomputer ein - den fünftstärksten
weltweit. Dessen Zweckbestimmung sei unter anderem der Einsatz in
strategischen Anlagen, betonte er. Verteidigungsminister Fernandes kündigte
noch für dieses Jahr den Test einer Langstreckenrakete des Typs Agni an.
Bei der Nukleartechnologie hofft Indien, die amerikanischen Exportsperren
umgehen zu können, indem es wieder in Moskau anklopft. Dieses hat bereits
früher die strengen Auflagen der «Nuclear Supplier Group» sehr extensiv
ausgelegt.